„Das Hereinwirken der geistigen Welt in das Zeitgeschehen.“
„Es ist schon einmal so in der Geisteswissenschaft: Man kann nicht klipp und klar auf manche Fragen antworten, weil unsere Zeitgenossenschaft noch nicht so weit ist, die Wahrheiten im richtigen Stile aufzunehmen. Man muss manches andeuten. Wenn Sie nachlesen in den Vorträgen, die nicht lange vor dem Ausbruch dieser furchtbaren Weltkatastrophe in Wien gehalten worden sind, so werden Sie dort die Stelle finden von dem sozialen Karzinom,
von der sozialen Krebskrankheit, welche an der Menschheitsentwickelung frisst. Angedeutet werden sollte durch solche und viele ähnliche Dinge, was der Menschheitsentwickelung bevorsteht, und aufgefordert werden sollte durch solche Dinge zum Nachdenken. Denn dieses Nachdenken, das ist es, was uns einzig und allein in wirklichem Sinne wach machen kann. Und waches Leben, wir brauchen es, und die Menschheit braucht es. Und wenn
Geisteswissenschaft ihre Aufgabe erfüllen will, so ist vor allen Dingen nötig, dass sie die Anregerin wird zu vollem Wachsein. Denn wissen allein von den Dingen, die sich in der Sinnenwelt abspielen, und von den Gesetzen, die der Verstand durchschauen kann als in der
Sinneswelt vorhanden, das heißt denn doch in einem höheren Sinne schlafen. Vollständig wach ist die Menschheit nur dann, wenn sie auch Begriffe, Ideen entwickeln kann von jener geistigen Welt, die ja ebenso um uns herum ist wie Luft und Wasser, wie die Sterne, wie
die Sonne und der Mond. Und so wie man schläft, wenn man nur ganz hingegeben ist dem inneren Leibesprozess in der Nacht und keine Ahnung hat von dem, was ringsherum in der äußeren körperlichen Welt vorhanden ist, so schläft man auch, wenn man nur der äußeren Sinneswelt hingegeben ist und der Verstandeswelt und den Verstandesgesetzen, die in der äußeren Sinneswelt walten, und keine Ahnung hat von dem, was um einen herum ist als
geistige Welt.
Es ist merkwürdig, dass gerade in den letzten Jahrhunderten – und am ärgsten um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert – die Menschheit auf ihren geistigen Fortschritt, auf ihre wissenschaftlichen Errungenschaften so sehr pochte und dass im Grunde genommen niemals das unbewusste, instinktive Leben so ausgebreitet war wie in dieser Zeit, dass immer mehr und mehr gegen die Gegenwart herauf das instinktiv Unbewusste die Menschen ergriffen hat. Das Nicht-Sehen dessen, was geistig um uns herum ist, das Nicht-Rechnen mit diesem Geistigen, das ist ja im letzten Grunde die Ursache dieses furchtbaren Weltenkampfes. Und man kann nicht sagen, dass die Menschheit durch die Jahre, die sich, wie ich angedeutet habe, wie Jahrhunderte verlängern für den, der sie wachend durchlebt, man kann nicht sagen, dass die Menschheit schon hinreichend viel gelernt hat von dem, was in so furchtbarer Weise sich abgespielt hat. Man könnte leider sogar das Gegenteil davon sagen.
Was ist denn das eigentlich Charakteristische, das einem jetzt täglich, stündlich auffallen kann, wenn man verfolgt, was heute Menschen denken – besser gesagt, vorgeben zu denken, vorgeben zu wollen -, was ist denn das eigentlich Charakteristische? Das eigentlich Charakteristische ist, dass im Grunde genommen über die Welt hin niemand weiß, was er will, dass niemand darauf kommt, dass dasjenige, was man berechtigterweise wollen
könnte – gleichgültig, wie es sich in den einzelnen Köpfen der einzelnen Völker ausmalt -, viel besser erreicht würde, wenn man die furchtbaren, blutigen Ereignisse wegließe, dass diese furchtbaren, blutigen Ereignisse sich abspielen und dass sie eigentlich unnötig
sind, unnötig sind zu dem, was gewollt wird.
Allerdings, es walten in diesen Ereignissen geheimnisvolle Zusammenhänge. Aber wenn Sie manches nehmen, was, allerdings auch nur andeutungsweise, im Laufe der Jahre gerade in unseren geisteswissenschaftlichen Vorträgen gesagt worden ist, so werden Sie doch finden,
dass auch in Bezug auf dasjenige, das sich als Allerbedeutungsvollstes hereingestellt hat in die Ereignisse der letzten Jahre, manches recht klar angedeutet worden ist. Wenn Sie nur nehmen, was auch innerhalb dieser Räume, namentlich in den letzten Jahren, entwickelt
worden ist über den Charakter des russischen Volkes und über den Gegensatz dieses russischen Volkes zu den west- und mitteleuropäischen Völkern, dann werden Sie daraufkommen, dass Sie nichts anderes brauchen, als was hier gesagt worden ist, zum
Verständnisse desjenigen Ereignisses, das scheinbar so stürmisch in der letzten Zeit eingeschlagen hat, zum Verständnisse dessen, was man gewöhnlich die Russische Revolution jetzt nennt, dieses Ereignisses, das hereingebrochen ist wie eine Vergeltung, aber eine
innerlich durchaus absolut verständliche karmische Vergeltung, wobei man dieses Wort als Terminus technicus und gar nicht im moralischen Sinne zu nehmen hat. Es wird nicht nur die russische, es wird die europäische, wird die Menschheit der ganzen Welt lange, lange nachzudenken haben über die Ereignisse, die sich im Osten Europas viel geheimnisvoller jetzt abspielen, als man eigentlich denkt. Denn was Jahrhunderte lang sich
vorbereitet hat, das ist da an die Oberfläche getreten. Und das Neue, das sich gestalten will, es zeigt heute noch ein ganz anderes Gesicht als dasjenige, das sich entwickeln will, das sich herausgestalten will. Spätere Geschlechter werden noch die Möglichkeit
haben, den Unterschied zwischen Maja und Wirklichkeit anschaulich zu machen an dem, was sich in den nächsten Jahrzehnten im Osten von Europa gestalten wird. Denn die gegenwärtigen Geschlechter nehmen die Maja eben nicht als Maja hin, sondern als eine
Wirklichkeit. Sie nehmen das, was jetzt geschieht, hin als etwas, was schon dasjenige ist, was es werden will. Das ist nicht so. Da will etwas ganz anderes an die Oberfläche. Und schlecht sind die Westvölker gerüstet zu verstehen, was da an die Oberfläche will.
Warum sind sie so schlecht gerüstet? So sonderbar dies aussieht für den Menschen, nicht
für Sie, aber für den Normalmenschen der Gegenwart – Sie sind ja alle dadurch, dass Sie zur Anthroposophie gehören, nicht Normalmenschen der Gegenwart -, so sonderbar das für den Normalmenschen aussieht, mehr, unendlich viel mehr als irgendeine andere Zeit erfordert
diese gegenwärtige Zeit von den Menschen gerade dasjenige, was diese Menschen am allerwenigsten haben wollen: geisteswissenschaftliches Verständnis. So sonderbar es für den Normalmenschen der Gegenwart eben klingt: Ordnung wird aus dem Chaos der Gegenwart nicht, bevor eine genügend große Anzahl von Menschen sich bequemen wird, die geisteswissenschaftlichen Wahrheiten anzuerkennen. Das wird das weltgeschichtliche Karma sein.
Lassen Sie die Menschen reden, die da glauben, wir haben jetzt einen Krieg, wie frühere Kriege waren, und wir werden nächstens Frieden schließen, wie frühere Frieden geschlossen worden sind; lassen Sie das die Menschen glauben. Das sind die Menschen, die die Maja
lieben, das sind die Menschen, die die Wahrheit nicht von der Täuschung unterscheiden. Lassen Sie diese Menschen selbst einen Scheinfrieden vielleicht irgendwie schließen:
Ordnung wird aus diesem Chaos, das jetzt die Welt durchzieht, nur dann, wenn die Morgenröte einer geisteswissenschaftlichen Auffassung die Menschen ergreift. Und wenn Sie etwa in Ihrem Herzen empfinden sollten: Dann wird lange nicht Ordnung werden, dann wird es noch lange dauern – weil Sie vielleicht des Glaubens sind, die Menschen werden sich lange nicht bequemen, eine geisteswissenschaftliche Morgenröte heraufkommen zu lassen -, dann
werden Sie Recht haben. Dann glauben Sie aber nur auch, dass lange keine Ordnung werden wird aus diesem Chaos heraus, denn sie wird nicht früher werden, als bis eine geisteswissenschaftliche Auffassung die menschlichen Herzen durchdringt. Alles andere wird Schein sein, alles andere wird scheinbare Ruhe sein, unter der immer neue und neue Feuerflammen sich entzünden werden, denn Ordnung wird aus diesem Chaos erst entstehen,
wenn man begreifen wird, woraus dieses Chaos entstanden ist.
Es ist entstanden aus ungeistiger Erfassung der Wirklichkeit – ja, aus ungeistiger Erfassung der Wirklichkeit. Die geistige Welt ignoriert man nicht ungestraft. Man kann glauben, dass man die geistige Welt ungestraft ignorieren kann, man kann glauben, dass man sich in der Welt Begriffen, Vorstellungen hingeben kann, die bloß aus der Sinneswelt entnommen sind, man kann das glauben, und das ist ja der allgemeine Glaube der heutigen
Menschheit. Aber wahr ist es nicht. Nein! Der irrigste Glaube, den jemals die Menschheit hat hegen können, das ist der – wenn ich mich trivial ausdrücken darf -, dass die Geister es sich gefallen lassen, ignoriert zu werden. Fassen Sie es meinetwillen auf als einen
Egoismus, als eine Selbstsucht der Geister, aber in der geistigen Welt gilt eine andere Terminologie als hier in der sinnlich-physischen Welt. Also fassen Sie es meinetwillen auf als einen Egoismus der Geister, aber die Geister rächen sich, wenn sie ignoriert werden hier. Es ist ein Gesetz, es ist eine eherne Notwendigkeit: Die Geister rächen sich. Und unter den mancherlei Charakteristiken, die man geben kann für die Gegenwart, ist auch
diese richtig, dass man sagen kann: Die Rache der Geister dafür, dass man sie so lange ignoriert hat, das ist das gegenwärtige Menschheitschaos.
Erinnern Sie sich, wie oft ich hier und an andern Orten gesagt habe: Es ist ein geheimnisvoller Zusammenhang zwischen dem, was menschliches Bewusstsein ist, und den zerstörerischen Kräften des Weltenalls, gerade den Untergangskräften des Weltenalls. Ja, dieser geheimnisvolle Zusammenhang zwischen den zerstörerischen Kräften des Weltenalls und dem Bewusstsein, der besteht; er besteht so, dass das eine als Ersatz für das andere auf
der einen Seite dienen kann oder auf der andern Seite dienen muss in der folgenden Art.
Nehmen wir einmal an, ein Zeitalter wäre dagewesen, sagen wir in den letzten zwanzig oder dreißig Jahren des 19. Jahrhunderts, in dem die Menschheit so nach Geistigem gestrebt hätte, wie sie in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nur nach materiellem Wissen und nach materiellen Taten gestrebt hat. Nehmen wir an, am Ende dieses 19. Jahrhunderts hätten die Menschen nach spirituellem Erleben, nach spirituellem Wissen, nach spirituellen Taten gestrebt. Was wäre das gewesen? Was wäre es gewesen, wenn die Menschen gesucht hätten, die geistige Welt zu erkennen und aus der geistigen Welt heraus der physischen Welt einen Charakter, eine Grundlage zu geben, statt dass in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die Menschen nur instinktiv immer mehr und mehr nach demjenigen Wissen gejagt haben, welches zuletzt in der Ausgestaltung der Mordwerkzeuge seine größten Triumphe feierte und welches in der menschlichen Bereicherung mit rein materiellen Gütern aufging? Was wäre geschehen, wenn die Menschheit gestrebt hätte, spirituelles Wissen, spirituelle Impulse für das soziale Wirken zu gewinnen? Es wäre eine Abschlagszahlung gewesen für zerstörerische Kräfte! Die Menschen wären wacher gewesen, statt dass sie die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts verschlafen haben. Die Menschen wären wacher gewesen, und die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts hätten nicht die Zerstörung zu bringen brauchen, wenn das Bewusstsein stärker gewesen wäre. Das spirituelle Bewusstsein muss eben stärker sein als das rein sinnlich-materielle Bewusstsein. Wäre das
spirituelle Bewusstsein stärker gewesen in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, so hätten nicht die zerstörerischen Kräfte einzugreifen brauchen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts.
Am intensivsten, am eindringlichsten – erkenntnistheoretisch -, aber, man möchte sagen auch am grausamsten gewahrt man das, wenn man Bekanntschaft macht mit manchen Toten, die in die geistige Welt eingezogen sind, sei es in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, sei es in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Viele Seelen waren darunter, die hier auf diesem Erdenrund innerhalb des Hastens und Treibens und Strebens im
Materiellen keine Gelegenheit gehabt haben, ihr Bewusstsein zu erwecken mit spirituellen Impulsen. Viele sind durch die Pforte des Todes gegangen, ohne auch nur eine Ahnung zu bekommen von Begriffen, von Ideen, die spirituelle Impulse andeuten. Wäre hier auf der Erde, bevor diese Seelen durch die Pforte des Todes gegangen sind, für sie die Möglichkeit gewesen, Spirituelles in ihre Vorstellungen, in ihre Begriffe aufzunehmen, sie hätten das mit durch die Pforte des Todes getragen. Das wäre ihnen ein Gut gewesen, das sie brauchen nach dem Tode. Sie haben es nicht haben können.
Wer die Geistesgeschichte, die sogenannte Geistesgeschichte der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts und der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts kennt, der weiß, dass man nicht einmal mehr das Wort Geist anzuwenden gewusst hat auf das Richtige: Man hat es auf
alles Mögliche angewendet, nur nicht auf dasjenige, was wirklich Geist ist. So haben die Seelen keine Möglichkeit gehabt, den Geist hier zu kennen. Sie müssen die Abschlagszahlung nehmen. Sie lechzen jetzt, da sie durch die Pforte des Todes eingetreten sind in die geistige Welt, sie lechzen – ja, wonach lechzen sie, diese Seelen, die hier im Materialismus lebten, wonach lechzen sie? Nach zerstörerischen Kräften in der physischen
Welt lechzen sie! Denn das ist die Abschlagszahlung. Diese Dinge lassen sich nicht mit bequemen Begriffen abtun. Will man auf diesem Gebiet die
Realitäten kennenlernen, dann muss man sich eine Empfindung für dasjenige verschaffen, was in den ägyptischen Mysterien die eherne Notwendigkeit genannt worden ist. So furchtbar es ist, so sehr notwendig war es, dass Zerstörung Platz griff, da sich die durch die Pforte des Todes Gegangenen sehnten nach zerstörerischen Kräften, in denen sie leben können, nachdem sie hier die Abschlagszahlung durch spirituelle Impulse nicht haben erhalten können.
Es wird nicht früher Ordnung aus dem Chaos, bevor die Menschheit sich entschließt, solch ernste Wahrheiten wirklich durch ihre Seele ziehen zu lassen und auch solch ernste Wahrheiten in die Ideen einfließen zu lassen, die heute politisch durch die Welt ziehen.
Und wenn diese Wahrheiten pessimistisch klingen und Sie sich denken: Wie weit ist die Menschheit noch weg von all dem, was jetzt als gefordert bedeutet worden ist -, dann haben Sie recht. Aber lassen Sie aus diesem Ihrem berechtigten Pessimismus die innere Aufforderung folgen, die wache Aufforderung, da, wo Sie können, an jeglicher Stelle des Lebens, an die Sie gestellt sind, den Versuch zu machen, Seelen zu erwecken nach der
Richtung, nach der die Geisteswissenschaft ihre Impulse senden kann. Man kann es freilich heute noch nicht viel, aber man muss wirklich das ehrliche, aufrichtige Bestreben haben, in der Art, wie es eben der eine oder der andere verstehen kann, aufmerksam zu machen auf dieses Konkrete, das darin besteht, dass die neuere Zeit Sehnsuchten in den Toten hervorgerufen hat, denen jetzt entgegengekommen wird mit dem, was wir Lebenden hier auf dem physischen Plan mit Schaudern erfahren. (Rudolf Steiner)(am 29.09.1917 in der GA 177 („Die spirituellen Hintergründe der äußeren Welt“), S. 13 ff.“)“